International und kollektiv

Europäische Perspektiven zu Kollektivverträgen Solo-Selbstständiger

01.10.2022

1.10.2022
Auf europäischer Ebene arbeiten die nationalen Gewerkschaften eng zusammen. Seit vielen Jahren geht es da auch um Solo-Selbstständige. Um ihre soziale Sicherung und die Arbeitsbeziehungen, immer öfter jedoch auch um das Wettbewerbsrecht. – Hierzu stehen ver.di und die europäischen Partnergewerkschaften im ständigen Dialog mit den verschiedenen EU-Institutionen und die Gewerkschaften haben vor dem Europäischen Gerichtshof mehrfach kollektive Rechte für Selbstständige erstritten. Aktuell ist durch eine Initiative der EU-Kommission die Ende September 2022 in Leitlinien zu Tarifverträgen für Selbstständige mündete Bewegung in das Thema Wettbewerbsrecht und kollektive Verhandlungen von Selbstständigen in Europa gekommen. Die ver.di war am Zustandekommen der Leitlinien in vorderer Reihe beteiligt und hat das Zustandekommen in einer Pressemitteilung vom 29.9.2022 entsprechend begrüßt. "Die Zeiten, in denen sich die Auftraggeber mit einem Hinweis auf das EU-Wettbewerbsrecht vor Verhandlungen drücken konnten, sind vorbei", freut sich darin der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke. – Nähere Informationen mit Links zu aktuellen Dokumenten finden sich in der Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom gleichen Tag.

Die neuen Leitlinien gelten für Solo-Selbstständige, die wenig Einfluss auf ihre Arbeitsbedingungen haben, weil sie sich - so die FAQ der EU-Kommission"in einer mit Arbeitnehmern vergleichbaren Situation befinden oder weil ihre Verhandlungsposition gegenüber der bzw. den Gegenpartei/en schwach ist". Das sind laut Kommission beispielsweise Selbstständige, die mindestens die Hälfte ihres Arbeitseinkommens mit "ein und derselben Gegenpartei erwirtschaften". Eine Definition der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigkeit, die wir national bereits aus dem § 12a Tarifvertragsgesetz kennen. In Zukunft sollen aber auch jene geschützt werden können, die sich in einer "unausgewogenen Verhandlungsposition" befinden. Also Solo-Selbstständige, die zwar nicht als arbeitnehmerähnlich anzusehen sind, jedoch trotzdem wenig Einfluss auf ihre Arbeitsbedingungen haben. Tarifverträge für dies Gruppen, so die FAQ, "könnten nach wie vor in den Anwendungsbereich von Artikel 101 AEUV fallen", also formal gegen das europäische Wettbewerbsrecht verstoßen, "aber die Kommission verpflichtet sich, nicht gegen solche Vereinbarungen vorzugehen".

Der lange Weg zur europäischen Leitlinie zu Tarifverträgen für Selbstständige

Insbesondere mit der Zunahme der plattformvermittelten Arbeit wurde klar und für die EU langsam zum Ziel: Das Wettbewerbsrecht darf die Organisierung für eigene Interessen nicht abwürgen. Das gilt insbesondere für wirtschaftlich abhängige Selbstständige, die übermächtigen Auftraggebern nicht schutzlos ausgeliefert werden dürfen. Im Dezember 2021 präsentierte die EU-Kommission nach jahrelangen Diskussionen den ersten Entwurf einer Leitlinie, die ein Kompromiss-Ergebnis aus den bisherigen Konsultationen zur Reform des Wettbewerbsrechts in Sachen Solo-Selbstständige enthielt. Darin ist sie den gewerkschaftlichen Positionen ein großes Stück entgegengekommen: Kollektivverhandlungen sollten mit wenigen Einschränkungen für alle Solo-Selbstständigen ermöglicht werden – wenn die Auftraggeber keine Kleinstunternehmen sind und dadurch ein Machtgefälle zwischen beiden Vertragsparteien angenommen werden muss. Dies Gefälle wird bei Auftraggeber-Monopolen grundsätzlich angenommen, ist allerdings noch im Einzelfall zu betrachten. Nachbesserungsbedarf hatte ver.di zu diesem Zeitpunkt vor allem hinsichtlich der Definition der „wirtschaftlichen Abhängigkeit“ angemeldet. Schließlich hatte der ver.di-Bundeskongress bereits 2015 die Zielmarke von einem Drittel des jährlichen Einkommens von einem einzelnen Auftraggeber beschlossen. Die Kommission blieb jedoch dabei, eine wirtschaftliche Abhängigkeit und damit ein Verhandlungsmandat für die Vertretungen der Solo-Selbstständigen erst dann anzunehmen, wenn ein*e Selbstständige*r mindestens die Hälfte des gesamten jährlichen Arbeitseinkommens von einem Auftraggeber bezieht. 

Bei der Tarifautonomie verwies und verweist die Kommission auf die nationalen Zuständigkeiten und lehnt Honorarempfehlungen weiterhin ab, ohne dies explizit zu benennen. Unsere Gewerkschaft hatte sich bei der Konsultation, die bis zum 24. Februar 2022 lief, noch einmal mit einer eigenen ver.di-Stellungnahme zur Leitlinie Solo-Selbstständige eingebracht, in der sie den Entwurf der Leitlinien entlang dreier Kernforderungen kommentierte:

  • Inklusiver, nichtdiskriminierender Ansatz: Kollektive Verhandlungen mit Auftraggebern müssen ausnahmslos für alle Solo-Selbstständigen legalisiert werden.
  • Ermächtigung zu Honorarempfehlungen, wenn die Auftraggeberseite nicht verhandlungswillig ist.
  • Keine Beschränkung der Tarifautonomie: Die Kommission darf sich weder in die Modalitäten noch in die Inhalte von Tarifverhandlungen und -verträgen einmischen.

Was mit diesen Kernforderungen konkret gemeint ist, die wir auch bei einer nationalen Umsetzung der Leitlinie einbringen werden, steht in unserer ausführlichen ver.di-Stellungnahme. – Und auch die Positionen aus der DGB-Stellungnahme, an der sich ver.di intensiv beteiligt hat, werden da eine Rolle spielen. Zur Historie dieser Leitlinie und dazu, dass die EU überhaupt ins Laufen gekommen ist, gehören auch die Überlegungen, die die Selbstständigen in ihren und über ihre europäischen Gewerkschaften eingebracht haben. Etwa auch unser Arbeitspapier Wettbewerbs- und Kartellrecht aus 2018, das die kartellrechtliche Hindernisse für Solo-Selbstständige anspricht, die die EU-Kommission lange nicht auf dem Schirm hatte. Im Gegenteil: Im Jahr 2005 wurde mit einer Novelle des europäischen Wettbewerbsrechts faktisch das Recht abgeschafft, wenigstens Empfehlungen zu üblichen Vergütungen zu geben. Obwohl solche Honorarempfehlungen weiterhin nicht möglich sein sollen, hat die EU nun aber im Herbst 2022 die Grundlage geschaffen, mit anderen Mechanismen für besser Einkommen und Arbeitsbedingungen in kollektive Auseinandersetzungen treten zu können.

 

Da die Probleme im Bereich der Arbeits- und Einkommensbedingungen von Selbstständigen mit geringer Verhandlungsmacht stetig zunahmen, hatte selbst die traditionell wirtschaftsliberal agierende Generaldirektion Wettbewerb einsehen müssen, dass etwas passieren muss. In 2021 hat sie dann – ausgehend von Fragen, die sich bei plattformvermittelter Arbeit ergeben – eine Leitlinieninitiative gestartet, die im dritten Quartal 2022 fertig wurde. Ihre Grundüberlegung lautete: „Kollektivverhandlungen können ein mächtiges Instrument sein, um bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen. Für Einzelpersonen, die keine Arbeitnehmer sind, kann das Wettbewerbsrecht jedoch ein Hindernis für Kollektivverhandlungen zur Verbesserung ihrer prekären Situation darstellen.“ Dazu präsentierte die Generaldirektion in einer ersten Runde Anfang 2021 Überlegungen zu Collective bargaining agreements for self-employed und bat um die Stellungnahmen jener, die dazu etwas zu sagen haben.

Von Beginn an war die richtige Leitidee der EU-Kommission, kollektive Verhandlungen Selbstständiger zu erleichtern und die Rechtsunsicherheit zu beenden, inwieweit das EU-Wettbewerbsrecht der Vereinigung und den (Tarif-)Verhandlungen von Solo-Selbstständigen im Wege steht. Betont wurde aber ebenfalls von Anfang an, dass einseitige Preisfestsetzungsvereinbarungen, also beispielsweise verbindliche Honorarempfehlungen, ausgeschlossen sein müssen. Unter dieser Maßgabe nannte die Kommission vier Gruppen von Selbstständigen, die von der Initiative umfasst werden könnten: 1) ausschließlich Plattformtätige, 2) Solo-Selbstständige, die ihre eigene Arbeitskraft über digitale Arbeitsplattformen oder für gewerbliche Kunden ab einer bestimmten Mindestgröße anbieten, 3) die letztgenannten, ausgenommen der freien Berufe, und schließlich die – weitestgehende und von ver.di unterstützte – Option 4: alle Solo-Selbstständigen.

Insgesamt 309 Rückmeldungen gingen in der ersten Fragerunde der Kommission ein, darunter viele Einzelmeinungen und Stellungnahmen von Wirtschaftsverbänden, die erkenntlich wenig Kenntnis oder Erfahrung im Tarif-, Arbeits- und Wettbewerbsrecht haben. Von Gewerkschaftsseite aus gab es nicht nur Stellungnahmen sondern auch hochrangige Gespräche, etwa zwischen dem ver.di-Vorsitzenden Frank Werneke sowie dem Regionalsekretär von UNI Europa, Oliver Röthig und der Abteilungsleiterin der EU-Generaldirektion Wettbewerb. Die lesenswerteren Stellungnahmen unter den mehreren hundert Rückmeldungen stammen von den europäischen Gewerkschaften (und sind in der Sammlung mit 'trade union' gekennzeichnet). Darunter die

  • Stellungnahme der UNI Europa, dem europäischen Gewerkschaftsverband für die Dienstleistungssektoren, die (inklusive ver.di) für 272 nationale Gewerkschaften spricht, die
  • Stellungnahme der ETUC, des Europäischen Gewerkschaftsbundes. Flankierend dazu hat der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) im Namen der Mitgliedsgewerkschaften in enger Zusammenarbeit mit ver.di ein Papier auf Deutsch verfasst. Diese
  • Stellungnahme des DGB geht auf die auch für die ver.di-Selbstständigen wesentlichen Punkte ein, wenn es darum geht, auch die Besonderheiten des nationalen Rechts zu berücksichtigen. Betont wird darin die Nowendigkeit, "die kartellrechtliche Ausnahme von Tarifverträgen/Kollektivverträgen aus dem europäischen Wettbewerbs- und Kartellrecht ausdrücklich auf soloselbstständig erwerbstätige Personen auszudehnen".