Krankenversicherung als Solidarsystem

08.01.2024

Der Mindestbeitrag für freiwillig Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen ist zum Jahresanfang 2019 um mehr als die Hälfte gesunken. Ein großer erster Schritt, den wir in jahrelanger, zäher Lobbyarbeit für Selbstständige erreichen konnten. Allerdings war das Parlament mit den Änderungen hinter unseren weiter bestehenden Maximalforderungen zurückgeblieben. – Doch zunächst zu den Änderungen des Jahres 2018:

  • Freiwillig gesetzlich Versicherte, darunter insbesondere die Selbstständigen, zahlen auch heute noch einen Mindestbeitrag. Allerdings wurde das angenommene Mindesteinkommen ab 2019 um rund 56% gesenkt. Von damals 2.284 € auf 1.038 €. Der Mindestbeitrag für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung sank auf damals rund 170 € pro Monat (und liegt im Jahr 2024 bei rund 225 €). – Eine massive Entlastung.
  • Zur Berechnung der Mindestbeiträge Selbstständiger gab es zuvor absurde Sonderbestimmungen, die ausschließlich für Selbstständige galten. Seitdem gelten für alle freiwillig Versicherten einheitliche Beitrags-Bedingungen. Dadurch entfällt die oft völlig abstruse Pflicht nachzuweisen, ob eine haupt- oder nebenberufliche Selbstständigkeit vorliegt. (In Sachen Beiträge bleibt es allerdings ein entscheidender Unterschied, ob eine sogenannte freiwillige oder eine gesetzliche Pflichtversicherung bei der Krankenkasse besteht.)
  • Die teils entwürdigende, dem damaligen ALG2 abgeschaute Bedarfsprüfung entfiel, der sich Geringstverdiener*innen unterziehen mussten, um einen "ermäßigten" Mindestbeitrag zahlen zu dürfen.
  • Freiwillig Versicherte zahlen während sie Kranken- oder Mutterschaftsgeld beziehen gar keine Mindestbeiträge. Hier werden rein einkommensabhängige Beiträge ab der Geringfügigkeitsgrenze (2024 = 538 € pro Monat) fällig.

Bei aller damaligen Freude über die Erleichterungen: Langfristig kann nur eine solidarische Bürgerversicherung die weiter bestehende Ungleichbehandlung vermeiden. Eine Versicherung für alle, in der ein Ausgleich der Risiken auch zwischen allen Bürger*innen stattfindet. Es geht um einen grundsätzlichen Systemwechsel, die privaten Krankenversicherungen abzuschaffen. Das ist natürlich ein langfristiges Projekt, daneben sind zahlreiche Baustellen im aktuellen System vorhanden, die schnell beseitigt werden müssen und können. Wir setzen uns daher dafür ein,

  • dass gesetzlich krankenversicherte Selbstständige Versicherungsbeiträge wie Arbeitnehmer*innen zahlen. Zur Bemessungsgrundlage soll daher ausschließlich das Erwerbseinkommen werden – ab der Geringfügigkeitsgrenze von zurzeit 538 € pro Monat;
  • dass die Beitragsberechnung bei weiteren Einkommen einheitlich geregelt wird und nicht ausschließlich freiwillig Versicherte Beiträge auch auf Geldzuflüsse jenseits der Erwerbseinkommen zahlen müssen;
  • dass bei gesetzlich wie privat Versicherten die Beitragszahlungen zuerst den Versicherungsschutz decken – auch bei säumigen Beiträgen aus der Vergangenheit;
  • dass die gesetzliche Krankenversicherung für alle Selbstständigen Krankengeldleistungen ab dem 43. Tag als Standard vorsieht.

Offene Baustellen: Gleichstellung und Bürgerversicherung

Unsere Forderung, auch selbstständig erwerbstätige Geringstverdiener*innen zu entlasten bleibt aktuell: Diese müssen weiterhin bis zu knapp 40 Prozent ihres Einkommens allein für Kranken- und Pflegeversicherung zahlen. Abhängig Beschäftigte hingegen nur rund 9 Prozent. Die Beitragsbemessung für alle Erwerbstätigen am realen Einkommen zu bemessen – und das ab der Geringfügigkeitsgrenze – bleibt ebenfalls auf unserer Agenda. Dass dies in 2018 und seitdem nicht umgesetzt werden konnte, hat einen einfachen Grund: Das politisch gewollte Nebeneinander von zwei Versicherungssystemen (gesetzlich und privat) bringt den gesetzlichen Krankenkassen massive Probleme. Sie müssen die Folgen der Ausweitung Niedrigeinkommens-Sektors auf das Sozialsystem weitgehend alleine tragen müssen. (Was nebenbei auch das langjährige Beharren der Krankenkassen sowie der Politik auf die früher gigantischen Mindestbeiträge erklärt.)

Im heutigen dualen Versicherungssystem hießen einkommensbezogene Beiträge ab einer 538-€-Grenze in der gesetzlichen Krankenversicherung: Ausschließlich gesetzliche Kassen werden gezwungen, gering verdienende Selbstständige zu nicht kostendeckenden Beiträgen – ihre familienversicherten Angehörigen sogar zum Nulltarif – zu versichern. Besserverdienende Selbstständige hingegen könnten weiterhin jederzeit in einen (für sie) günstigeren Tarif einer privaten Versicherung wechseln.

Alle Einkommen – egal ob aus abhängiger oder selbstständiger Tätigkeit – bei den Beitragsregeln gleich zu behandeln, klingt einfach und gerecht. Damit diese Rechnung aufgeht, müssten aber für alle Erwerbstätigen gleiche Bedingungen gelten, sie also alle in eine gemeinsame Kasse einzahlen. Wer das nicht will und trotzdem eine einheitliche Grenze fordert, ignoriert, wie kompliziert das duale Krankenversicherungssystem in Deutschland austariert ist: um die Existenz der Privatversicherungen zu erhalten und gleichzeitig gesetzliche Kassen vor Rosinenpickerei zu schützen.

Die Politik ist am Zug

Ohne weitere Veränderungen im System werden die gesetzlichen Kassen keine völlige Gleichstellung der Beiträge aller Versicherten umsetzen können. Das aber haben nicht die von Mini-Einkommen Betroffenen zu verantworten, sondern eine Politik, die den Niedrigeinkommenssektor systematisch ausgeweitet hat: Wir fordern daher, die Probleme, die das duale Versicherungssystem schafft, nicht auf dem Rücken der Geringverdienender*innen auszutragen oder auszusitzen. Das gilt unabhängig vom Erwerbsstatus. Ebenso wie abhängig Beschäftigte sollen Selbstständige einen einkommensbezogenen Beitrag zahlen, alle willkürlich festgelegten Mindestgrenzen sind anzugleichen oder abzuschaffen. – Will der Gesetzgeber die Kosten für das duale Versicherungssystem sowie die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes nicht allein den gesetzlichen Krankenkassen aufbürden, hat er dafür die Möglichkeiten: Er kann einen Ausgleich zwischen den Kassen und Systemen regeln oder auch Steuermittel in die Hand nehmen, um die Gleichbehandlung umzusetzen.

Der beträchtliche Erfolg, dass wir gemeinsam mit Fachleuten aus Politik und Sozialversicherungen die Senkung des Mindestbeitrags durchgesetzt haben, entbindet die Politik nicht davon, sich noch einmal grundsätzlich mit dem Thema Beitragsgerechtigkeit, Solidarität und Bürgerversicherung zu beschäftigen: Unterschiede bei den Beiträgen allein mit dem Erwerbsstatus zu begründen, wird zunehmend anachronistisch. Daran ändert die erhebliche Senkung der fiktiven Mindestbeiträge nichts. Für Geringverdiener unter den Selbstständigen bleibt eine große Gerechtigkeitslücke.

 

Zweiklassen-System verhindert gerechte Lösungen

Wer eine echte Angleichung der Bedingungen für Selbstständige und abhängig Beschäftigte bei den gesetzlichen Kassen fordert, wird sich nicht auf die Beitragsbemessung und Beiträge in nur einem Versicherungszweig beschränken können: Die Beiträge, Rahmenbedingungen und Leistungen im Gesamtsystem müssen für Alle passen und stimmen. Soll beispielsweise eine Vollversicherung bei gesetzlichen Kassen bereits ab 538 € Monatsgewinn möglich sein, wäre es logisch, auch private Versicherungen zu verpflichten, den vollen Versicherungsschutz und eine Familienmitversicherung ab rund 85 € Monatsbeitrag anzubieten. – Jede einseitige Belastung der gesetzlichen Krankenkassen hingegen bringt weitere Schieflagen zu Lasten des gesetzlichen Systems.

Der Gesetzgeber versucht, die Schieflagen durch ein Flickwerk von Ausgleichsregelungen einzudämmen. So entstanden absurde Annahmen über das Mindesteinkommen und die strengen Regeln zur Rückkehr in eine gesetzliche Krankenkasse. Entlang der – angesichts wechselnder Erwerbsverläufe zunehmend surrealen – Grenzlinie zwischen abhängigen und selbstständigen Einkommen entstehen zwangsläufig immer neue Baustellen. Auch bei einer formalen Gleichstellung kann das System insgesamt falsch aufgestellt sein, daher sind ein paar mehr Fragen zu beantworten: Soll die Versichertengemeinschaft grundsätzlich auf Kapitaleinkommen von Angestellten verzichten? Ist es richtig und konsequent, Selbstständigen, die ausschließlich Kapitaleinkünfte haben, den Minimal-Tarif zu spendieren? Wäre es sinnvoll, unabhängig vom Erwerbsstatus alle Einkunftsarten zu verbeitragen? Welche Freibeträge wären vorzusehen?

Das gilt insbesondere für die Frage, welche Einkommen beitragspflichtig sind: Bei abhängig Beschäftigten – egal welche weiteren Geldzuflüsse sie haben – werden Beiträge allein auf das Erwerbseinkommen erhoben, bei Selbstständigen auch auf alle Einkommen jenseits der beruflichen Tätigkeit. Es gibt gute Gründe, dass der Gesetzgeber wie im Abs. 1 des § 240 SGB V die Krankenkassen dazu verpflichtet "sicherzustellen, dass die Beitragsbelastung die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des ... Mitglieds berücksichtigt". Es gibt aber überhaupt keinen Grund, das (wie in der aktuellen Fassung des Gesetzes) auf freiwillig Versicherte zu beschränken. Hier sind eigentlich nur zwei Lösungen gerechtfertigt: Entweder werden Sozialbeiträge ausschließlich auf Erwerbseinkommen fällig und Dinge wie Nebeneinkommen, Mieten, Kapitalerträge, (Gründungs-)Zuschüsse werden für alle Versicherten beitragsfrei gestellt, oder zur Finanzierung des Gesundheitssystems - wie des Sozialstaates insgesamt - tragen tatsächlich alle Versicherten unabhängig von der Haupt-Erwerbsform entsprechend ihrer gesamten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zur Finanzierung bei. Prinzipiell stellt sich die gleiche Frage übrigens bei der Definition (oder Abschaffung) der Beitragsobergrenze.

Bei einer fortlaufenden Diskussion um die Reform der Krankenkassenbeiträge Selbstständiger gehören alle genannten Logik-Brüche gemeinsam auf den Tisch. Wer die nicht im Rahmen einer Gesamtreform und/oder einer Bürgerversicherung beseitigen will, ist verdammt, weiterhin Bypass-Regeln zu stricken, die sowohl die Überforderung eines Versicherungszweigs wie die von einzelnen Versicherten(gruppen) verhindert.

 

Die Historie – Entwicklung der Diskussion

Die ver.di-Selbstständigen fordern seit Gründung der Gewerkschaft im Jahr 2001, die soziale Sicherung gerecht zu gestalten und die Mindestbeiträge der gesetzlichen Kassen zu senken. Dazu wurden kontinuierlich Gespräche mit Parteien und Parlamentarier*innen geführt. Es hat allerdings bis zum Vorfeld der Bundestagswahl 2017 gedauert, bis wirklich Bewegung in das Thema kam und alle im Bundestag vertretenen Parteien unsere Position übernommen hatten, dass zumindest eine Absenkung der Mindestbeiträge für Selbstständige auf ein erträgliches Maß fällig ist. Insbesondere dann, wenn eine Altersvorsorgepflicht für alle Selbstständigen eingeführt wird.

 
Gesundheitskarte

Sowohl bei den „Jamaica-Verhandlungen“ im Herbst 2017 als auch bei den Sondierungen zwischen Union und SPD Anfang 2018 war klar, dass das Thema angegangen wird. Konkrete Vorschläge und Zahlen wurden in den Verhandlungen zum Koalitionsvertrag jedoch lange ausgespart. Unterschiedliche Einschätzungen gab es vor allem zur Höhe des Mindestbeitrags. Dabei spielte und spielt im Hintergrund auch immer die unterschiedliche Haltung der Parteien zum Thema Bürgerversicherung und private Krankenversicherungen eine große Rolle. Ebenso allerdings auch, wie stark wir unsere Stimme für ein vermeintliches Randthema erheben. Da die Politik die Bedingungen eines relativ kleinen Teils der Versicherten nicht unbedingt als Priorität ansieht, spielt es eine erhebliche Rolle, dass wir unsere Position hier in enger Absprache mit der gesamten ver.di und damit im Namen von knapp zwei Millionen Mitgliedern erheben konnten (und der DGB mit knapp sechs Millionen Mitglieder mit uns an einem Strang gezogen hat). 

Wichtig war das auch, um den eher vagen Koalitionsvertrag in der Folge um sinnvolle Lösungen zu ergänzen: Die Verhandler*innen des Koalitionsvertrags aus 2018 hatten nämlich einfach nur am letzten Tag der Sondierungen ziemlich zusammenhanglos (ab Zeile 4782) den Satz in das Papier gequetscht: "Um kleine Selbständige zu entlasten, werden wir die Bemessungsgrundlage ... von heute 2283,75 Euro auf 1150 Euro nahezu halbieren". Es war dann der Beratung der Ausschussmitglieder – auch mit uns – zu verdanken, dass sich das endgültige Gesetz zur Beitragsentlastung deutlich von den ersten Vorschlägen unterscheidet.

Von der Diskussion zum Entlastungsgesetz

Beim angenommenen Mindesteinkommen, dem Hauptproblem vieler gesetzlich Krankenversicherter, hat unsere jahrelange, hartnäckige Diskussion mit Politik, Parteien und Versicherungen Früchte getragen: Nicht zuletzt, weil überproportional belastete Selbstständige kaum etwas für die Altersvorsorge ansparen können, ist die Halbierung der KV-Beiträge schließlich in den Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD gerutscht. Der erste (Referenten-)Entwurf für ein GKV-Versichertenentlastungsgesetz wurde dann am 19. April 2018 vorgelegt. Schließlich folgte der am 27. September erstmals im Bundestag beratene Kabinetts-Entwurf und dessen entscheidender Verbesserung nach den Anhörungen in den Bundestagsausschüssen für Arbeit und Soziales sowie Gesundheit am 8.10.2018: Statt einfach den bisherigen Mindestbeitrag zu halbieren, wurden alle unsinnigen Spezialregeln für Selbstständige gestrichen und so vom Bundestag am 18.10.18 beschlossen und anschließend gesetzlich verankert.