Scheinselbstständigkeit

05.02.2014

Hunderttausende arbeiten in Deutschland wirtschaftlich abhängig und persönlich weisungsgebunden – werden aber trotzdem formal als Selbstständige beschäftigt. Der Grund, die abhängige Beschäftigung zu verschleiern ist simpel: Anspruch auf Kündigungsschutz, Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung, Lohnfortzahlung bei Krankheit, Urlaub, Mindestlohn oder gar tarifliche Bezahlung haben nur abhängig Beschäftigte. Arbeitskräfte, die die entsprechenden Ansprüche nicht ins Honorar einpreisen können, sind weit billiger.

Das gilt insbesondere beim sozialrechtlichen Status: Zwischen der Beschäftigung einer Arbeitnehmerin und einem Selbstständigen liegen gut 20 Prozent Kostenunterschied. Haben die (Schein-)Selbstständigen nicht die Marktmacht, die Differenz auf ihr Honorar aufzuschlagen, ist es viel günstiger mit Dienst- und Werkverträgen zu operieren. Kein Wunder, dass eine IAB-Langzeituntersuchung zur Scheinselbstständigkeit im Jahr 2017 zu dem Schluss kommt: "Vor allem Geringqualifizierte und Berufseinsteiger gehören zu den Risikogruppen."

Um zu verhindern, dass Arbeitgeber nach Belieben Arbeitnehmerrechte aushebeln und die Sozialversicherungen ausbluten, sollen in unserer Rechtsordnung nur echte Selbstständige beauftragt, abhängig Beschäftigte jedoch angestellt werden. Für scheinbar Selbstständige ist, wenn die falsche Etikettierung auffliegt, die Zahlung der Sozialversicherung durch die Arbeitgeber fällig, manche Scheinselbstständige müssen auch fest angestellt werden. Allerdings: Kein Gesetz regelt konkret, was die Scheinselbstständigkeit ausmacht. Dass hier im Zweifel allein Gerichte entscheiden – und das auch noch in jedem Rechtszweig einzeln – ist ein seit langem ungelöstes gesellschaftspolitisches Problem. (Warum, wie und nach welchen Kriterien Gerichte und die Sozialversicherung den Status definieren, steht hier in unserem 'Ratgeber Selbstständige'.)

Fehlende Klarheit

Alle Versuche einer rechtlichen Definition sind bislang an einer breiten Interessenskoalition (zu Lasten der Sozialkassen) gescheitert. So hatte das Arbeits- und Sozialministerium Ende 2015 eine Klarstellung angekündigt und einen ersten Gesetzentwurf vorgelegt, der einen Kriterienkatalog definieren und den arbeitsrechtlichen Status an den sozialrechtlichen anbinden wollte. Dieser Entwurf wurde im Gesetzgebungsverfahren radikal abgeschwächt.
Am 1. April 2017 traten damit keine keine klaren Kriterien für eine Scheinselbstständigkeit in Kraft, sondern ein neuer §611a im BGB referiert seitdem lediglich die laufende Rechtsprechung: "Weisungsgebunden ist, wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. Der Grad der persönlichen Abhängigkeit hängt dabei auch von der Eigenart der jeweiligen Tätigkeit ab. Für die Feststellung, ob ein Arbeitsvertrag vorliegt, ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände vorzunehmen."

Es bleibt also bei den bekannten Unklarheiten und den Einzelfallprüfungen durch die Deutsche Rentenversicherung (DRV). – Die läuft dabei Gefahr zum Buhmann zu werden, sobald sie sich mit Prüfungen und Beurteilungen gegen das Ausbluten des solidarischen Systems der gesetzlichen Altervorsorge wehrt. Die Kritik ist manchmal berechtigt: Die fehlende gesetzliche Definition führt im Einzelfall zu kaum verständlichen, manchmal hanebüchen praxisfremden Betrachtungen. Dass die Prüfungen insgesamt noch viel zu selten sind, im Großen und Ganzen zu korrekten Ergebnissen kommen und das einzige Mittel gegen die Ausbeutung Scheinselbstständiger und der Sozialkassen sind, solange der Status Selbstständigkeit auch zur Umgehung sozialstaatlicher Regelungen missbraucht werden kann, geht da ein wenig unter.

 

ver.di: Probleme der Rechtsanwendung beheben, mehr Rechtssicherheit für alle Beteiligten schaffen.

Unser Lösungsansatz

ver.di will die Aufnahme und Ausübung scheinselbstständiger Tätigkeiten effektiv verhindern und Rechtssicherheit schaffen, ohne die echte selbstständige Tätigkeit zu behindern. - Das klappt nur, wenn das derzeitige Prüfverfahren im Einzelfall ergänzt wird durch klare Kriterien, die es Auftragnehmer*innen und Auftraggebern erlauben, leicht(er) zu beurteilen, wie der konkrete Erwerbsstatus bei einer Dauerbeschäftigung aussieht. Ob dies über einen Positiv- oder Negativkatalog erfolgt ist egal, wichtig ist jedoch, für alle Berufe und Formen der Beschäftigung die gleichen Kriterien anzusetzen. Denn: Nur über einen neuen und wirksamen Katalog von Kriterien wird es möglich sein, eine echte Selbstständigkeit auch bei längerer Erwerbstätigkeit bei einem Kunden oder in einem Projekt rechtssicher auszuüben.

Dazu hat die ver.di bereits 2015 auf ihrem Bundeskongress mit dem Antrag A078 beschlossen, sich für eine gesetzliche Neuregelung einzusetzen. Diese sei "so auszugestalten, dass die Aufnahme und Ausübung einer echten Selbstständigkeit nicht behindert wird. Gleichzeitig soll sie gewährleisten, nur zum Schein selbstständige Tätigkeiten schneller und einfacher zu identifizieren." Ziel müsse sein, den sozialen und arbeitsrechtlichen Schutz der Betroffenen dauerhaft sicherzustellen, eine Erosion der Sozialversicherung verhindern, Wettbewerbsverzerrungen entgegentreten und Rechtssicherheit schaffen: "Um Scheinselbstständigkeit zu verhindern fordert ver.di, bei jeder längerfristigen selbstständigen Beschäftigung, die dem Erscheinungsbild nach einer abhängigen Beschäftigung gleicht, widerlegbar zu vermuten, dass ein Beschäftigungsverhältnis vorliegt. Ziel ist es, den tatsächlich vorliegenden Beschäftigungsstatus zu klären, ohne dass die Sozialversicherungsträger gezwungen sind, in jedem Einzelfall einen Missbrauch des selbstständigen Vertragstyps nachweisen zu müssen."
Gleichzeitig sollen Vertragsparteien, die in begründeten Ausnahmen etwas Abweichendes regeln wollen, den Nachweis, dass tatsächlich eine selbstständige Tätigkeit vorliegt, schnell und rechtssicher führen können. Hier kann sich ver.di vorstellen, dass "taugliche Vermutungsregeln eingeführt werden können, die eine Selbstständigkeit nahelegen". In der Begründung zum Beschluss wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass es nicht darum geht, die Grenzlinie zwischen selbstständiger und abhängiger Tätigkeit grundsätzlich zu verschieben. Ein klarer Kriterienkatalog "muss sich darauf beschränken, die bestehenden Probleme der Rechtsanwendung zu beheben und soll zu mehr Rechtssicherheit für alle Beteiligten führen. ... Die entsprechenden Regelungen (dürfen) eine echte selbstständige Tätigkeit nicht erschweren."
Zu diesem Schluss kam dann übrigens am 18.5.21 auch der vom Bundesarbeitsminister eingesetzte "Rat der Arbeitswelt", der sich in einem Kapitel im Jahresbericht 2021 auch speziell mit Solo-Selbstständigen und der Scheinselbstständigkeit beschäftigte...