Die Debatte, ob und wie die Altersvorsorgepflicht für Selbstständige kommt – 2018 fest vereinbart im Vertrag der großen Koalition, dann vertagt und Ende 2021 im aktuellen Ampel-Koalitonsvertrag wieder aufgenommen – hat eine lange Geschichte. Alle Diskussionen um dieses Thema werden schnell ideologisch aufgeladen, denn es geht um die Grundfrage, welche Verantwortung der Staat, Auftraggeber und die Selbstständigen selbst für die Vorsorge haben. Es ist mehr als eine abstrakte Diskussion um Rentenniveau, Demografie und Produktivität: Es geht um Verteilung und Gerechtigkeit für alle in allen Lebens- und Erwerbslagen. Da setzen Gewerkschaften und Sozialverbände (wie die Merheit der Bevölkerung) auf andere Werte als die einflussreichen wirtschaftsliberalen Kräfte in der Politik und den Wirtschaftsverbänden.
Einstweilen setzt sich bei der Alterssicherungspflicht (auch) für Selbstständige eine Hängepartie fort. Dass es sinnvoll ist, Selbstständige auch gesetzlich zu einer Altersvorsorge anzuhalten, ist seit vielen Jahren gesellschaftlicher Konsens. Jedoch schleppen sich die Anläufe von Legislaturperiode zu Legislaturperiode und reflektieren eher politische Kräfteverhältnisse als wissenschaftliche Erkenntnisse und gesellschaftliche Notwendigkeiten. HInzu kommen die Unwägbarkeiten äußerer Umständen: Die Corona-Pandemie etwa, ließ eine Umsetzung in der 19. Legislaturperiode in den Hintergrund rücken, die erste halboffizielle Feststellung des Scheiterns war in einer Anlage zu einem Plenarprotokoll des Bundestags versteckt. (220. Sitzung vom 14.4.2021, Seite 98, Frage 64). Mit Bezug auf Corona stellt die Staatssekretärin Griese fest: “Eine gesetzgeberische Umsetzung wird mit der gebotenen Sorgfalt in dieser Legislaturperiode nicht mehr möglich sein.”
Das Problem der adäquaten Alterssicherung von (zumindest zeitweise) Selbstständigen, das nun schon in vielen Anläufen nicht gelöst wurde, soll Ende 2023 erst einmal nur in einem sehr, sehr moderaten Einstieg in eine Vorsorgepflicht münden. Das eigentliche Thema der sinnvollen Absicherung im Alter für alle Erwerbstätigen und Bürger*innen bleibt auch dann noch auf der Tagesordnung, denn: Die Fiktion, es gäbe unabhängig von Beruf, Betriebsgröße und Einkommen die Interessen von oder Vorsorgeform für Selbstständige ist ebenso antiquiert wie die Annahme, Selbstständigkeit sei immer ein durchgängiges Lebensprojekt: „Gebrochene“ Berufsbiografien – wechselnde Phasen von abhängiger Beschäftigung, Selbstständigkeit, Familienphase, Arbeitslosigkeit – sind die neue Normalität. Eine für alle Phasen tragfähige Altersvorsorge muss das berücksichtigen. Sie darf niemanden in Armut zurücklassen, keine Egoismen befördern und niemanden aus der Solidarität entlassen.
Es ist Zeit, gemeinsam für gute Einkommen sowie die gerechte Verteilung gesellschaftlichen Reichtums zu kämpfen. Das heißt auch: In den Debatten zur Vorsorge genauer hinzuschauen, wer auf ein solidarisches System setzt und wer allein die individuelle Vorsorge oder nur einzelne Berufsgruppen im Blick hat. Klar ist: Zur Armutsvermeidung braucht es mehr Umverteilung und weniger Individualismus. – Auch das hat die Corona-Krise überdeutlich gezeigt.
Viele Solo-Selbstständige haben zu geringe Einkommen und Rücklagen, um aus eigener Kraft der Altersarmut vorzubeugen: Alterseinkommen sind eben immer auch ein Spiegel des Erwerbslebens. Es reicht daher nicht, einfach jene, die sich das gar nicht leisten können, zur Vorsorge zu verpflichten und anderen freizustellen, wie sie ihr Vermögen zur Altersvorsorge einsetzen oder anlegen.
Schon heute sind einige Selbstständige gesetzlich zur Vorsorge verpflichtet und müssen die Kosten dafür in ihre Preise und Honorare einkalkulieren. Gerecht wäre es, wenn alle abgesichert wären und sich entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit an einer solidarischen Altersvorsorge beteiligten. Die Beschränkung auf eine bloße Vorsorgepflicht – etwa durch Schaffung neuer Versorgungssysteme oder kapitalmarktabhängige Privatversicherungen oder gar die Anerkennung aller möglichen Rücklagen als Vorsorge – lehnen wir ab. Nur ein gemeinsames, umlagefinanziertes System
Nur ein solidarisches System kann mit seinen Ausgleichsmechanismen flexibel auf Schwankungen der Honorare und Lebenslagen reagieren sowie die individuelle Spar- und Leistungsfähigkeit Selbstständiger bei der Beitrags- und Leistungsgestaltung berücksichtigen. Dies gilt etwa für Gründungsphasen, aber auch für Zeiten der Auftragslosigkeit, der Weiterbildung, in Familienphasen oder bei Krankheit. In der Diskussion, wie ein solidarisches Vorsorgesystem für alle Bürgerinnen und Bürger konkret auszugestalten ist, setzen wir uns insbesondere dafür ein,
Eine Darstellung sowie einen Vergleich der verschiedenen Formen der Altersvorsorge findet ihr im 'Ratgeber Selbstständige' unserer Beratung selbststaendigen.info. Dort wird auch das Grundproblem genannt: "Jede Form der seriösen Altersvorsorge, egal ob im Umlagesystem oder individuell angelegt ist sehr teuer." Daher darf, wer über Altersvorsorge redet, zu den Themen Vermögensverteilung in der Gesellschaft und Einkommen während der Erwerbsphase nicht schweigen.
Das blenden jene gerne und systematisch aus, die undiffernziert behaupten, Selbstständige würden (und könnten) bereits ausreichend vorsorgen. – Bei Lichte betrachtet sind alle Studien, die das belegen sollen, eher erschreckend. "Von denjenigen Personen, die nicht an einer gesetzlichen Rentenversicherung teilnehmen, verfügen knapp zwei Drittel über ein Immobilien-, Geld oder Anlagevermögen von mindestens 100 000 € und etwa 40 Prozent sogar über ein Vermögen von mindestens 250 000 €", frohlockt etwa eine von interessierten Kreisen gerne zitierte DIW-Studie aus 2016 mit dem suggestiven Titel "Die allermeisten Selbständigen betreiben Altersvorsorge oder haben Vermögen". – Da fehlt die Erwähnung, dass die durchschnittliche Rentendauer 21 Jahre beträgt. Und selbst 250.000 € (die fast zwei Drittel der Selbstständigen gar nicht haben) reichen da gerade einmal, sich 21 Jahre lang monatlich knapp 1.000 € auszuzahlen. Und 100.000 € reichen nicht einmal für 400 € monatlich.
Uns ist klar: Eine solidarische Erwerbstätigenversicherung zu schaffen, ist ein Langzeitprojekt. Unser Diskussionsstand findet sich im Flyer zur Altersvorsorge.